Dieser Text wurde in der Versorgerin #115 veröffentlicht.


48 STUNDEN MELTDOWN
Über das bei STWST48x3 MIND LESS laufende Projekt „Eisberg/The Entity – 48 Hours Meltdown“, über erweiterte Kontexte und die Erhöhung von Widerspruch assoziiert Tanja Brandmayr. Quasikunst ist dead: Yes / No.


Das Sichtbare unsichtbar machen: Vor einigen Jahren stand der plötzlich aufgetauchte persönliche Wunsch nach Unsichtbarkeit und Abtauchen, inmitten einer – beinahe auf allen Fronten praktizierten, auch in der Kultur – fast schon permanent geäußerten Programmatik eines so beschlagworteten „sichtbar Machens“. Den größeren Teil seiner Dinge unsichtbar unter der Oberfläche zu halten ist in einer zunehmend durchrationalisierten und an die Oberfläche gezerrten Welt im Gegensatz aber möglicherweise überlebenswichtige Strategie, um nicht als Ganzes abzusaufen. Besonders in der Entwicklung hin zur totalen Verrechnung der Welt, zur Sichtbarkeit, hin zur totalen Durchsichtigkeit, zur Überwachung oder zumindest zur sozialen Kontrolle oder dem Verlust an Intimität, gilt es möglicherweise, das Sichtbare wieder unsichtbar zu machen. Unten halten, nicht rausrücken, das Verborgene nicht rationalisieren, quantifizieren oder banalisieren. Mit neun Zehnteln unter der Oberfläche: Ich möchte ein Eisberg sein – am kalten Polar. Ein Eisberg beschreibt die Distanz zur Welt, und bedeutet geradezu sprichwörtlich das Wesentliche unter der Oberfläche. Wenn die Möglichkeit auf Distanz und das Wesentliche unter der Oberfläche weg ist, dann stirbt alles von unten nach oben.

Ewigkeitskosten: Seit Jahrtausenden schneit es auf den Polen, seit 115-130tausend Jahren gefrieren dort unendlich viele Schneeflocken zu Eisschichten, die tausende Meter dick sind. Eis ist globale Klimaentität und weltweiter Kälte- und Süßwasserspeicher. Eis als nicht-entropischer klimatischer Zustand regelt das Weltklima, selbstverständlich unter anderen Faktoren. Das Polareis ist dynamisches System, es wandert, faltet sich, kalbt an den Rändern, Wasser strömt unter dem Eis ab. Die ökologischen Kontexte beim Thema Polareis sind selbstredend und vergleichsweise unerforscht. Die Eisschicht, die sich seit der neolithischen Revolution, also seit 12tausend Jahren gebildet hat, als sich die Menschheit sesshaft gemacht hat, ist vergleichsweise oberflächlich, die Schicht, die seit der industriellen Revolution gefroren ist, überhaupt ganz dünn. Der Rest tief unten im Inneren ist Klima- und Erdgeschichte. Weltgeschichte aus Schneeflocke um Schneeflocke. Gefrorene Weltwasserwetterreise per Schneegestöber. Nun schmilzt das Eis, Ewigkeitskosten unklar. Eventuell gerät die Erde wegen Abschmelzen des Polareises und der sich verschiebenden Polachsen sogar ins Trudeln. Im Sinne einer abschmelzenden globalen Eis-Landschaft hat das „Material“ Eis also nur allzu dramatische, naheliegende ökologische Kontexte. Um es so zu sagen: Der Planet wird’s schon überstehen – nur wir wahrscheinlich nicht. Oder, wir lachen mal kurz, es werden diejenigen überleben, die gemäß der Heilslehre der AI-Religion bereit sind, daran zu glauben, als Software weiterleben zu können.

Eisschrank: Eis als Material beschreibt als Symbolik auch den kalten blinden Fleck der IT und AI – zumindest ist das die Behauptung innerhalb dieses Projekts „Iceberg/The Entity – 48 Hours Meltdown“: Es geht um das Fakt der permanent notwendigen Kühlung der Datensysteme gegen Überhitzung/Meltdown – bei stetiger Zunahme der Datenmengen. Der Beginn ist gemacht, Kapazitäten und Ressourcen für AI und Big Data müssen sukzessive hochgefahren werden. Eine kurze Beschlagwortung: ein immenses AI-Kapazitätsbackup, Dezentralisierung von Rechenleistung (der neue heiße Scheiß Blockchain: Die Datenbank verbraucht für eine einzige Transaktion die gleiche Menge Elektrizität, die einen amerikanischen Durchschnittshaushalt für einen Tag versorgen könnte) und Smartphones, Smarthomes und das oft zitierte Internet der Dinge. Das alles sorgt für eine große Zahl von Daten, die in den Netzen herumgeschickt werden, zum Beispiel der oft zitierte smarte Kühlschrank – wie sinnig in diesem Zusammenhang. Es baut sich also folgender Gegensatz auf: Während die Polkappen schmelzen, wird in der hochtechnologisierten Welt ein Kühlschrank aufgebaut, um die Daten kalt zu halten. Die symbolische Entität Eisblock ist damit das kalte und notwendige Backup, die kalte und unzugängliche Ganzheit unter unseren smarten Datenoberflächen. Die Entwicklungen sind, sowohl was Ökologie als auch Technologie betrifft, nicht abschätzbar. Abgesehen von allen Komponenten des intentionalen Wollens dieser Entwicklungen und auch bei technologischer Machbarkeit scheint sich ein massives Ressourcen-, Versorgungs- und Verteilungsproblem aufzubauen.

Eis als Quasikunst: Bei STWST48x3 wird nun ein Eisblock seiner performativen Eigenschaft schlechthin ausgesetzt – eines Meltdowns innerhalb von 48 Stunden. Eis performt seine eigene Materialität und seinen weitläufigen Zusammenhang. Eis ist hier Material, performatives Agens, und bedeutet Hereinnahme von systemischer Erweiterung und des Widerspruchs in sich, es ist systemisch-performativer Zusammenhang der erweiterten Kontexte. Dieser 48-Stunden-Meltdown wird innerhalb vom Kunst- und Kontextresearch Quasikunst inszeniert: Quasikunst ist, unter einigen Vorläuferprojekten, systemisch-performative Recherche. Quasikunst bezieht sich lose auf vorhandene Theoriebegriffe wie Quasiobjekte und die Kontexte ihrer weitläufigen Verbindungen. Sie ist je nach Projekt ausgerufenes systemisches Gebilde, bedeutet Untergrund in alle Richtungen, überlagerte Zustände, diffuse Kollektive, abgründige Verbindungen, anderes Material, und innerhalb dieser aufgeschlagenen Zusammenhänge gleichzeitiges ja und nein sagen. Sie bedeutet in ihrem Movens auch: Neu eingeschleuste Koordinaten, Kontexte werden um weitere Zusammenhänge erweitert, Gegensätze befragen Widersprüche.

Entität: Der Eisberg/Eisblock steht für eine symbolische Entität, die sich in ihrem Bedeutungs- und Behauptungszusammenhang aus Natur und Technik als übergeordnetes Objekt, als anderer Akteur aufgebaut hat. Inmitten der weitläufigen Kontexte wird der Eisblock damit zu einem eigenen/anderen Akteur, zu einer Entität, die für sich und in ihrer Widersprüchlichkeit selbst bereits eine bestimmte Größe erreicht hat. Als ausgerufene Entität steht der Eisblock für ökologische und physische Präsenz per se, während er sich andererseits als Repräsentation eines technologischen Konstrukts hochrüstet und aus sich heraus keinen kulturellen und auch sonstigen Gegensatz mehr zu bilden vermag. Dies bedeutet, dass innerhalb dieser Systeme nicht nur Kritik an sich obsolet scheint, also nicht mehr möglich, sondern sich, aufgrund der sich zunehmend bis zur Nichtkritisierbarkeit verschmolzenen systemischen Zusammenhänge, eine große Gleichförmigkeit ausbreitet, also ein Zustand, der dem systemischen Tod gleichkommt. Ein weiterer Faktor ist auch die Unzugänglichkeit der Systeme. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Begriff der Immersion: Dieser Begriff, der sich momentan auch zunehmend in einem nichttechnologischen Kulturbereich zeigt, und hier ein recht herkömmliches Versprechen auf „Eintauchen“ macht, entwickelte sich zuletzt gerade aus der IT und meinte dort ein Eintauchen, ein Verschmelzen mit einer virtuellen Umgebung. Die Systeme, die sich derzeit selbst im Namen von Big Data und AI forcieren, um darin „eingehen“ zu können, sind allerdings hochgradig unzugänglich, sie drohen sich ohne Menschen zu verselbstständigen. Der mitgelieferte Subtext von beinahe allen Dingen in diesem Zusammenhang heißt: Die Abschaffung des Menschen – bei gleichzeitig hochgradigem Erlebnisversprechen an diese Menschen. Das sind die Widersprüche, mit denen wir zu tun haben. Eis als gefrorener Zustand ist also auch Symbol für ein eiskalt-abstrahiertes Erlebnisversprechen bei gleichzeitig größer gefasster Unzugänglichkeit – sowohl im konkret räumlichen Sinn als auch im weiter gefassten systemischen Sinn der neuen Entitäten.

Erhöhung des Widerspruchs: Wenn man so will, präsentiert sich mit dem Material Eis also ein recht anschaulicher Widerspruch – das Material performt sich selbst und das System. Beides lässt sich wegen seiner klimatischen als auch symbolischen Speicherkapazitäten durchaus als negativ entropischer Zustand benennen: Als eine von mehreren Definitionen von negativer Entropie gilt die Erhöhung von Komplexität. Bei Quasikunst geht es nun genau um die dargestellte erhöhte Komplexität im Sinne der selbst performativ gewordenen Widersprüche innerhalb der gezeigten Objekte/Zusammenhänge – Wie etwa einem als Quasikunstprojekt behaupteten Eisblock (und an dieser Stelle sei angemerkt: außerdem noch ein paar anderer Elemente): Die Dinge sind an sich nicht nur komplex, sondern enorm widersprüchlich geworden, in sich hochgradig verschmolzene Entitäten. In diese Systeme gilt es nun neue Benennungen einzuführen – gegen die zunehmende Entropie. Und in gewisser Weise geht es bei der systemisch-performativen Recherche innerhalb von Quasikunst nicht nur um die Erhöhung von Komplexität, sondern um die Erhöhung von Widerspruch.

Ich bin in meiner dritten Person. An sich eher low-tech orientiert, hat Quasikunst letztes Jahr die Abwesenheit, das Verschwinden menschlicher Akteure ins paradoxe Zentrum gerückt: Heuer, bei STWST48x3/Quasikunst werden ebenfalls nicht-menschliche Akteure thematisiert, als neue Entitäten, systemische Subjekte/Objekte, Quasi-Präsenzen von Natur und Technologie. Quasikunst bedeutet dieses Jahr bei MIND LESS einen Meltdown, aber auch die Erweiterung um zwei Projekte, die im Sinne der Strategie von Erhöhung des Widerspruchs ebenso als systemische Zusammenhänge firmieren. Dies ist zum einen Lisa Spalts Textinstallation „Enter the Net – Get A Passport for the Cold Land“, die den Eisblock in einen literarischen Textbeginn über den Meltdown übersetzt – mit der innewohnenden Fragestellung nach der tatsächlichen Überwindung des KI-Winters oder eines lediglich ökologisch/sozialen Meltdowns. Auf der anderen Seite gibt es zwei Robotik- und AI-Recherchen der Gruppe H.A.U.S. Diese werden sich in ihre eigenen Widersprüchlichkeiten vertiefen: Ein mittlerweile auch kommerziell breit eingesetzter Roboter aus Serienproduktion wird umprogrammiert, um als „The Robot is present“ die kulturelle Dimension von Präsenz ins weiße Plastikgehäuse fallen zu lassen – als eine Art Fragestellung nach der Dimension einer kulturell verstandenen Präsenz, wie sie eben – die Anspielung dürfte offensichtlich sein – Marina Abramović darstellte. Also quasi die Fragestellung nach einer Art ready made serial presence von breit eingesetzten Roboter-Anwesenheiten, deren Widersprüche von Kultur und Technik (as we know it) in sich zusammenfallen drohen, und die in ihrer banalen Nachbildung von allen menschlichen Kontexten beinahe beschämen. bAms als kleine, mittels open source selbstgebaute Module wiederum werden sich spontan als selbstorganisierte Schwarmmodule auf dem Maindeck vor der Stadtwerkstatt zeigen – für mich persönlich stellen sie die weitest entfernte Assoziation zum Gestöber der Einzelteile dar, die sich in nicht vorhersehbarer Weise mit den unähnlichen Mitspielern, also mit Menschen am Maindeck, organisieren. Sie sind die offenste Stelle im System – und in den dramatischen Komplexitäten, die nur zu oft zwischen der koketten Idee der Selbstabschaffung des Menschen und seines zwingenden Ersaufens im selbstgemachten Disaster oszilliert, stellen sie eine beinahe rührende Anmutung eines spielerischen Erfindergeistes dar, stehen als symbolische neue Entität inmitten der analysierenden, wahrnehmenden, abbildenden Komplexität für das ungebrochene Individuum und seine intentionale Kreativität.

Quasikunst bei STWST48x3 MIND LESS bedeutet also eine Realität, die bereits über uns eingebrochen ist, bedeutet Leben und negative Entropie im Sinne von Erhöhung von Komplexität und Widerspruch, mit dem fertig zu werden ist; bedeutet Cold Land, Robots und Eisblock – als immer noch surreale Kontexte; und bedeutet mindless times, die schon vor der Zukunft wie nach der Zukunft schmecken: Es geht um neue Entitäten, es geht ums Ganze. Den bereits oben angeführten Hauptwiderspruch – Abschaffung des Menschen bei gleichzeitig hochgradigem Erlebnisversprechen an diese Menschen – erweitern wir um die Frage: Ist die Abschaffung des Menschen die Abschaffung des Todes? Irgendwann wird’s für jeden persönlich.